HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

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Deutschland „unter der Lupe“

Deutschland „unter der Lupe“

Deutschland „unter der Lupe“ im Essener Museum Folkwang
Wann immer ich eine Ausstellung besuche, vergleiche ich augenblicklich, ziehe „Schubladen“ auf und urteile während des Sehens. Das mag ein Fehler sein, ich kann diesen Reflex aber nicht ausschalten. So auch während des jüngsten Besuchs der Ausstellung mit Reportagefotos „Made in Germany“ aus dem Jahr 1965 von Leonard Freed im Essener Museum Folkwang.
Sehe ich beispielsweise Fotos von Robert Frank, dann weiss ich sofort, warum ich „frank-ophil“ bin: Franks Bildsprache begeistert. Schaue ich Freed-Fotos – werde ich Freedianer? Das hab´ ich mich vor dem Betrachten gefragt.

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Das Motiv „Junge mit Eisernem Kreuz“ – das Museum verwendet es in seinem Ausstellungsplakat – entstand 1965 in Hanau am Main. „Von meinem Großvater“, sagt der Junge, als Freed das Eiserne Kreuz begutachtet. Freed notiert weiter: „Es gehörte meinem Großvater, und jetzt habe ich ein Recht darauf“, wiederholt der Junge. In ordnungsliebenden Gesellschaften kommt dies der Entweihung einer heiligen Institution gleich. Seine Mutter habe es ihm gegeben. „Und was sagt dein Vater?“ frage ich. „Mein Vater ist tot, an der Ostfront getötet.“ *
Dieses Bild und weitere 110 Originalabzüge, ergänzt von Freed-Kommentaren, stehen in der Tradition zahlreicher Fotografinnen (z. B. Lee Miller, Margaret Bourke-White) und Fotografen (u. a. René Burri, Werner Bischof), die das Nachkriegsdeutschland durch ihre Kamera in Augenschein nahmen. Eine besondere Stellung nimmt das Magnum-Mitglied Leonard Freed ein (Vollmitglied seit 1972), was vor allem seiner Biografie geschuldet ist: Freed hat die Bundesrepublik und später Deutschland von 1954 bis 2004 immer wieder bereist und belichtete dabei über 800 Filme, zuerst mit einer Rolleiflex, später mit der Leica.

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Foto – Leonard Freed

Der Fotograf wurde 1929 in Brooklyn geboren, entstammte einer jüdischen Migrantenfamilie aus Minsk, seine Ehefrau Brigitte Klück ist nichtjüdische Deutsche. Nach der Heirat 1958 zieht das Paar nach Amsterdam, wo Freed u. a. die jüdische Gemeinde fotografiert. Dasselbe Thema findet er auch im Nachkriegsdeutschland. Zwei Bücher entstehen: Joden van Amsterdam, Amsterdam: De Bezige Bij, 1958 und Deutsche Juden heute, München: Rütten & Loening Verlag, 1965.
Leonard Freed: „Was mich zur Fotografie führte, war das dringende Bedürfnis, meine Beziehung zum Judentum und zu anderen Fragen, die mir Rätsel aufgaben, zu verstehen und zu klären.“ *
1970 übersiedelt das Paar in die USA, im selben Jahr erscheint auch „Leonard Freed´s Germany“. Darin zieht Freed anhand von 124 Aufnahmen ein Fazit seiner Erfahrungen aus mehreren Reisen durch Deutschland seit 1950. Die meisten Fotos entstanden 1965. Sein Augenmerk gilt der Frage nach den politisch-sozialen Wegen und Richtungen von Wirtschaftswunderland: wie stellt es sich seiner dunklen Vergangenheit, wie verhalten sich die nach 1945 Geborenen?

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Leonard Freed: „Mir wurde eine Fotografie des Großvaters gezeigt, der im Ersten Weltkrieg verwundet wurde, und  eine von dessen Sohn, der im Zweiten Weltkrieg getötet wurde. Die Familie war nicht stolz darauf, sagten sie mir.“

Die Anordnung der Bilder, ergänzt um kurze historische Anmerkungen und Betrachtungen von Freed zeichnen ein vielseitiges Portrait der jungen Bundesrepublik, einschließlich diverser Motive zur Zeit des Mauerbaus zwischen Ost und West. Als er an der Berliner Mauer einen dunkelhäutigen US-Soldaten sah, bemerkte er: „Zu Hause kämpfen Afro-Amerikaner um ihre Bürgerrechte und hier in Deutschland ist ein schwarzer Soldat bereit, die Vereinigten Staaten zu verteidigen.“ *
Wie es mit Deutschland weitergehen wird, diese Frage lässt das Buch offen. Bereits 1980 waren Freed Fotos „Made in Germany“ im Rahmen einer Ausstellungsreihe über Nachkriegsdeutschland im Museum Folkwang zu sehen. In der jetzigen Ausstellung „übersetzen“ die Ausstellungsmacher um Kurator Florian Ebner „die Struktur des Buches in den Raum zurück“, so wie während der Layout-Phase bei der Buchproduktion das gesamte Material, die Bilder und die Texte, zunächst auf Tischen ausgebreitet ist.

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Foto – Leonard Freed

Übrigens: im Katalog RE-MADE abgedruckt ist eine Liebeserklärung Freeds an die Stadt Dortmund, die am 10. August 1957 im Dortmunder Stadtanzeiger ganzseitig abgedruckt wurde: „In Dortmund wird hart gelebt und -verdient…!“ In Dortmund fand sein Schwiegervater Arbeit. Erfreulich für Besucher aus dem Ruhrgebiet: zahlreiche Motive wurden im Revier erstellt.

Und zwei in Düsseldorf – bei Joseph Beuys und seiner Familie im Jahr 1965. Dies ist interessant im Zusammenhang der neuen, jüngst publizierten Beuys-Biografie von Hans-Peter Riegel (Aufbau Verlag, Berlin 2013), die neue unbequeme Erkenntnisse über den Künstler enthüllt. Gleichfalls vor dem Hintergrund der Haltung seiner streitbaren Witwe Eva, die es Fotografen sehr schwer bis unmöglich macht, Fotos von Kunstaktionen ihres Mannes zu publizieren.
Leonard Freed: „In 25 Jahren wird Frankreich immer noch Frankreich sein, England wird England bleiben, und welche Veränderungen können wir in Italien schon erwarten… aber Deutschland, was wird aus Deutschland in den nächsten 25 Jahren?“ (L. Freed, Made in Germany, 1970)
Meine Wertung als Fotomaniac: als fotografische Dokumentation über Nachkriegsdeutschland lohnt ein Museumsbesuch unbedingt.

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Detail aus dem Motiv „118 Bayreuth“

Leonard Freed: „Der Fotograf ist ein Mensch und den Realitäten einer Situation ausgesetzt. Wenn die Aufnahmen nicht zeigen, was er gesehen hat, liegt das nicht an der Realität, vielmehr ist es der Unzulänglichkeit des Fotografen und seiner Werkzeuge zuzuschreiben.“ *
Ausstellung: Leonard Freed – „Made in Germany“ www.museum-folkwang.de
Interessant ist der Katalog, der aus zwei Büchern besteht: „Made in Germany“ und „Re-made Leonhard Freeds Deutschland“: „Re-Made“ erscheint als Begleitpublikation zur Faksimile-Neuauflage von „Made in Germany“ und enthält Anmerkungen Freeds aus dem Jahr 2005. Die Ausstellung greift auf seinen Großteil der Originalabzüge zurück, die als Druckvorlagen dienten und von Brigitte Freed und Dan Becker in einem New Yorker Fotolabor vergrößert wurden. Im Zusammenhang mit der aktuellen Ausstellung überließ Brigitte Freed dem Folkwang Museum 67 Originalabzüge.

Text & Ausstellungsfotos – Hartmut S. Bühler
* zitiert aus dem Katalog „RE-MADE Leonard Freeds Deutschland“