HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

Menu
„Gelebte Solidarität“ im Aufruhrgebiet

„Gelebte Solidarität“ im Aufruhrgebiet

Arbeitskämpfe (Labour Disputs): Fotografien von Michael Kerstgens im LVR-Industriemuseum Zinkfabrik Altenberg, Oberhausen

04-michael-kerstgens-blogbeitrag-hartmut-buehler-fotograf

Beim Besuch der Ausstellung denke ich sofort an die Sozialdramen des britischen Kinoregisseurs Ken Loach (sein Vater arbeitete im Kohlebergwerk). Und wie Parallelmontagen im Film sehe ich links Fotos vom Aufruhrgebiet Ruhrgebiet, rechts Bilder des britischen Bergarbeiterstreiks. Immer mit den Augen des Fotografen Michael Kerstgens aus Oberhausen. Die Fotos wirken surreal, sie sind aus einer anderen Zeit. Sie stammen aus der analogen Ära und sind auf Film gebannt.

03-michael-kerstgens-blogbeitrag-hartmut-buehler-fotograf

Der britische Bergarbeiterstreik
Im März 1984 begann der britische Bergarbeiterstreik, der fast genau ein Jahr dauern sollte. Auf dem Höhepunkt des Ausstands beschloss Michael Kerstgens (geboren in Llanelli, South Wales), damals noch Student der Fotografie, den Widerstand zu fotografieren. Misstrauen und Angst gegenüber der oft streikfeindlichen Presse verhinderten, dass der engagierte Fotografiestudent in Wales streikende Arbeiter und ihre Aktivitäten fotografieren durfte. Deshalb beschloss Kerstgens ins Zentrum des Streiks nach Yorkshire zu fahren. Dort bekam er Kontakt zu den Aktivisten Marsha und Stuart „Spud“ Marshall, der ihm die Möglichkeit gab, das Streikgeschehen und die Folgen jenseits der Demonstrationen mit der Kamera direkt zu begleiten.

02-michael-kerstgens-blogbeitrag-hartmut-buehler-fotograf

Kerstgens studierte Fotografie an der Folkwang-Hochschule in Essen und arbeitet seit 1985 freiberuflich als Dokumentar-Fotograf. Seit 2007 lehrt er als Professor für Dokumentar-Fotografie am Fachbereich Gestaltung der Hochschule Darmstadt.
Aus dem „Vorwort“ zu Michael Kerstgens´ COAL NOT DOLE – „1984… auf der Suche nach mir selbst und nach meinen Themen hatte ich gerade den Fotografen und Filmemacher Robert Frank für mich entdeckt. So kam ich auf die Idee, nach Süd Wales zu gehen, wo ich die ersten Jahre meiner Kindheit verbracht hatte. Einen Kontakt hatte ich auch noch. Mein Patenonkel war dort Direktor von Thyssen-Schachtbau Great Britain Ltd. … Ich hatte keine Ahnung.“ … Denn Kerstgens Onkel stand auf Seiten der Arbeitgeber und somit auf der falschen. „Zu den streikenden Bergarbeitern fand ich ebenfalls kaum Kontakt … war ich ihnen als Deutscher suspekt. … Es war frustrierend. Ich beschloss, Wales zu verlassen und es in Yorkshire zu versuchen. … Es war Boxing-Day, der erste Weihnachtsfeiertag … im Gewerkschaftsbüro der National Union of Mineworkers NUM … öffnete sich die Tür und Spud Marshall stand vor mir, klein, gedrungen und tätowiert. ´Call me Spud´, sagte er. Spud Marshall lud Kerstgens ein, bei ihm und seiner Familie zu wohnen. Die kleine Zechensiedlung in der Rimington Road in Wombwell lag vis-à-vis der bestreikten Zeche Darfield Main, dem Zentrum des erbitterten Arbeitskampfes. Nachdem Kerstgens nach geraumer Zeit und zahlreichen bierseligen Abenden in die Gemeinschaft aufgenommen wurde, bekam er Zugang auch zum engen Kreis um den legendären Arbeiterführer Arthur Scargill. Und Spuds Ehefrau Marsha erwies sich als begnadete Rednerin, die regelmäßig mit der politischen Aktivistin und Schauspielerin Vanessa Redgrave telefonierte. Kerstgens: „Die Bergleute waren die Speerspitze des Streiks, aber die Frauen der WAPC waren das Herz der Streikbewegung. … An Radikalität kaum zu überbieten. … stieß ich auf ein Traditionsbewusstsein, auch ein radikal proletarisches Bewusstsein, wie ich es noch nie vorher erlebt hatte. Nicht zu vergleichen mit der sozialdemokratischen Folklore, die – wie ich schon damals empfand – die Bergarbeiterkultur im Ruhrgebiet mehr und mehr ersetzte.“

05-michael-kerstgens-blogbeitrag-hartmut-buehler-fotograf

Nach einem Jahr endete der Streik mit einer vollständigen Niederlage: jeder Bergarbeiter hatte sich mit durchschnittlich 10.000 Pfund verschuldet. Viele hungerten, waren völlig demoralisiert. 70.000 Menschen verloren ihren Arbeitsplatz, ganze Gemeinden verschwanden von der Landkarte. Von den 170 Zechen zu Streikbeginn gab es 2014 nur noch ganze drei.
Kerstgens: „Welche individuellen Schicksale hinter diesen Zahlen stecken, kann man sich kaum vorstellen. Die Niederlage war verheerend. Und die Folgen sind bis heute zu spüren.“ Beim Abschied erhielt Kerstgens von Spud und Marsha eine Grubenlampe, einen Pokal der Fire Fighting Competition 1983 und ein Bierglas mit der Widmung: To Michael – Hands across the water, Hands across the sea“.

Arbeitskampf in Rheinhausen
„Die zweite große Serie der Fotografien zeigt Bilder des Kampfes um das Stahlwerk Rheinhausen. Am 26. November 1987 wurde bekannt, dass die Krupp-Stahl AG die Werksschließung des Stahlwerks Rheinhausen plante. Es begann ein langer Arbeitskampf mit zahlreichen zum Teil spektakulären Aktionen um den Erhalt des 1897 gegründeten Stahl- und Hüttenwerks.
Kerstgens Bilder zeigen den starken Zusammenhalt unterschiedlicher Akteure und die Solidarisierung verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen. Sie legen Zeugnis davon ab, dass es hier nicht allein um Arbeitsplätze ging, sondern auch um eine menschenwürdige Bewältigung des bevorstehenden Strukturwandels und die Zukunft einer ganzen Region. Die Sorge, die Anspannung, den Ernst der Lage, all das sehen wir in den Gesichtern der Aktivisten von damals.

06-michael-kerstgens-blogbeitrag-hartmut-buehler-fotograf

Anders als ein paar Jahre vorher in England war der Kampf nicht umsonst. Es wurde ein zwar schmerzhafter aber tragbarer Kompromiss erzielt, der vollständige Verlust von Hoffnung und Zukunft konnte für die meisten Betroffenen abgewendet werden (aus dem Pressetext von „Aufruhrgebiet“, Peperoni-Books. Darin enthalten sind auch Artikel über die Geschichte der Arbeiterbewegung und die Entwicklung der Stahlindustrie im Ruhrgebiet von Christoph Fasel, Theo Steegmann und Stefan Berger).“
… Es hat viel mit gelebter Solidarität, dem Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit, dem Gefühl einer mit der Industrialisierung verbundenen regionalen Identität und dem Gefühl einer industriellen und zunehmend postindustriellen Schicksalsgemeinschaft zu tun… (Prof. Dr. Stefan Berger, Direktor des Instituts für soziale Bewegungen, Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets; Bochum)

Bis zum 18. Dezember 2016 im LVR-Industriemuseum, Galerie der Zinkfabrik Altenberg, Hansastraße 20, Oberhausen: Bilder des Kampfes der Bergarbeiter in England in den 1980er Jahren und Fotografien vom Kampf der Arbeiter um den Erhalt des Hüttenwerks in Rheinhausen.
Öffnungszeiten: Di – Fr 10 – 17 Uhr, Sa – So 11 – 18 Uhr
Eintritt: Im Ticket zur Dauerausstellung „Schwerindustrie“ enthalten (5 €, erm. 4 €, Kinder und Jugendliche frei)
Zum Thema Aufruhr: am 04. November, Theater-Welturaufführung von David Peace’ Bestseller GB 84 über den großen Bergarbeiter-Streik in Großbritannien 1984 – GB 84 ist ein spannender, halb-dokumentarischer Politthriller: Anfang 1984 kündigt die konservative Regierung unter der Premierministerin Margaret Thatcher im Zuge ihres neoliberalen Wirtschaftsprogramms massive Zechenschließungen an. Die Bergarbeitergesellschaft unter Führung ihres Präsidenten Arthur Scargill ruft zu einem landesweiten Streik auf, der schließlich über ein Jahr dauern und Großbritannien an den Rand eines Bürgerkriegs bringen wird. Mit brutalen Polizeieinsätzen, illegalen Geheimdienstaktionen und manipulierter Berichterstattung in den Medien gelingt es der Regierung Thatcher, die Macht der Gewerkschaften endgültig zu brechen. GB 84 beschreibt den Anfang vom Niedergang des britischen Kohlebergbaus und den beginnenden Siegeszug jenes entfesselten Kapitalismus, der unsere Gegenwart prägt. Regie Peter Carp, im Theater Oberhausen.

Text und Ausstellungsfotos: Hartmut Bühler, Fotograf (DGPh), Düsseldorf – Originalfotos: Michael Kerstgens