HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

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Roland Barthes II

Roland Barthes II

Roland Barthes „Auge in Auge – Kleine Schriften zur Photographie“

Das Denken dahinter

Barthes gehört zu den Klassikern der Photographietheorie. Insbesondere sein spätes Meisterwerk Die helle Kammer hat die Debatten der letzten Jahrzehnte bestimmt und ihre Grundfragen formuliert. Weniger bekannt ist, dass Barthes zeit seines Lebens, von Mythen des Alltags bis hin zu seiner letzten Vorlesung Die Vorbereitung des Romans, intensiv zur Ästhetik und Theorie der Photographie publiziert hat. Diese verstreut publizierten Texte u. a. über Mode-, Werbe-, Theater- und Schockphotos oder über Photographen wie Richard Avedon, Lucien Clergue und Wilhelm von Gloeden sind in Roland Barthes „Auge in Auge – Kleine Schriften zur Photographie“ zum ersten Mal versammelt. Sie sind der »ganze Barthes« im Brennspiegel der Photographie (so die Verlagsankündigung). suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 352 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen, erschienen im November 2015.

Kapitel 1: „Gesichter und Gestalten“ (1953) erzählt u. a. von den glamourösen Fotos der Pariser Harcourt Studios – „in Frankreich ist man erst dann Schauspieler, wenn man von den Studios Harcourt fotografiert wurde“ – und der Macht und Strahlkraft des schönen Gesichts. Am Grabe des Schauspielers Rudolph Valentino (1895-1926) gelobten ihm weibliche Fans ewige Treue. Es soll sogar Frauen gegeben haben, die an seiner letzten Ruhestätte Selbstmord begingen.
Kapitel 2: „Schockphotos“ von 1957 beschreibt, was sich in jeder Ausstellung über Katastrophen- und Kriegsfotografie als Problem erweist: werden wir wirklich erschüttert und aufgewühlt? Stellt sich für den Betrachter in Freiheit und Sicherheit tatsächlich das Grauen ein und wie sollen wir uns angesichts des Grauens verhalten?
Kapitel 3: „Photogene Kandidaten“ von 1957 erklärt messerscharf, was es mit Fotoportraits von Politikern im Wahlkampf auf sich hat. Jedem Kreativteam einer Werbeagentur, das derzeit einen Wahlkampf-Etat betreut, hält diese zweieinhalb Seiten Analyse einen Spiegel vor: eine Zwangsleküre für alle, die am Briefing-Gespräch teilnehmen.
Kapitel 4: „Die große Familie der Menschen“ (1957) ist eine Kritik an der 1955 erstmals gezeigten Fotoausstellung The Family of Man, organisiert von Edward Steichen. Roland Barthes kritisierte aus Sicht des Dekonstruktivismus das humanistische Menschenbild der Ausstellung. Er beschrieb in Mythen des Alltags anhand dieser Ausstellung, wie der Mythos des «Adamismus» und der conditio humana arbeite: „Der Mythos von der conditio humana stützt sich auf eine sehr alte Mystifikation, die seit jeher darin besteht, auf den Grund der Geschichte die Natur zu setzen.“ In der Ausstellung arbeite dieser Mythos auf unterschiedlichen Zeitebenen, wie Gabriele Röttger-Denker Barthes Essay über diese Ausstellung zusammenfasst: „Zum einen werden die Unterschiede der Menschen auf der Welt betont, die Vielfalt ihrer Lebensweisen und Gebräuche, zum anderen wird aus diesem Pluralismus alles zu einer wesensgleichen Einheit verschmolzen: Geburt, Tod, Arbeit, Wissen, Spiel verlangen überall das gleiche Verhalten; es gibt eine Familie der Menschen. Es wird damit auf eine dahinterliegende, identische »Natur« verwiesen, auf eine allgemein menschliche Essenz, die nur durch einen starken Willen, den Gottes nämlich, zu erklären ist.“ Beispielhaft an den Photographien dieser Ausstellung wird von Barthes eine stabilisierende Funktion des Mythos dargestellt, die soziales Unrecht und Ungleichheit ihrer Geschichte und Kritik entziehe und sie somit festschreibe: „Ich befürchte deshalb, dass die Rechtfertigung dieses ganzen Adamismus darauf hinausläuft, für die Unveränderbarkeit der Welt die Bürgschaft seiner »Weisheit« und einer »Lyrik« zu liefern, durch die die Gebärden des Menschen nur verewigt werden, um sie leichter zu entschärfen.“ (Quelle: Wikipedia) – Aus über zwei Millionen Fotografien wählten Steichen und sein Mitarbeiter Wayne Miller zunächst zehntausend Aufnahmen aus. Schließlich gelangten 503 Aufnahmen von 273 Fotografen aus 68 Ländern in die Ausstellung. Die Ausstellung wurde weltweit von mehr als zehn Millionen Menschen besucht und zählt seit 2003 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Seit 1994 ist The Family of Man im luxemburgischen Schloss Clervaux als Dauerausstellung installiert.
Kapitel 5+6: „Sieben Modellphotos und ein Kommentar zu Mutter Courage“ von Bert Brecht (1959). Es geht darin auch um die Wirkungsweise von Theaterfotografie. RB zeigt sich beeindruckt von der Meisterschaft des französischen Fotografen Pic, der mit dem Teleobjektiv die für Barthes so wichtigen Details der Aufführung festgehalten hat. Er spricht aufgrund des Gastspiels in Paris von einer „révolution brechtienne“, von einer ungeheuren Wirkung auf das französische Theater.
Kapitel 7: Die Photographie als Botschaft (1961). Barthes über das Pressewesen und die Pressephotographie, über das Wort und das Bild, über Inhalte und Botschaften.
Kapitel 8: Rhetorik des Bildes (1964) „ist ein Essay der als ein semiologischer Grundlagentext anhand eines Reklamebildes der Firma Panzani in einer Spektralanalyse die Botschaften dieses Mediums untersucht“. Semiologie ist die allgemeine Lehre von sprachlichen und außersprachlichen Zeichen und ihren Systemen. (Quelle: Wikipedia)
Kapitel 9: Die Modephotographie (1964): Drei Seiten über den Augenblick des Zusammenspiels von Mode und Fotografie. Über absurde Lächerlichkeiten und Merkwürdigkeiten, über Theater vor der Kamera.
Kapitel 10+11: Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins (1970) und „Szene, Maschine, Schreibweise“ (1971). Unter den klassischen fünf Sinnen des Menschen ist der dritte Sinn das Gehör. Die Texte sind ebenso komplex wie kompliziert und schwer verständlich. → archive.org/stream/roland-barthes-der-dritte-sinn-1990/roland-barthes-der-dritte-sinn-1990_djvu.txt
Kapitel 12: Über mich selbst (1975). Dieses 43 Seiten lange autobiographische Kapitel (mit vielen Fotos, kaum Text) bringt mir den Menschen RB gefühlt näher als die Roland Barthes Biographie von Literaturhistorikerin Prof. Tiphaine Samoyault (839 Seiten, 2015 bei Suhrkamp erschienen).
Kapitel 13: „So“ (1977) ist eine Huldigung an Richard Avedons Fotokunst.
Kapitel 14: Über Photographien von Daniel Boudinet (1945-90). Die Beschreibungen der Bilder von DB lassen mich dem Seelenleben Barthes näher kommen als es die Biographie von Tiphaine Samoyault vermag.
Kapitel 15: Auge in Auge (1977). Über den menschlichen Blick, über die Wechselwirkungen von Sehen und Gesehen werden.
Kapitel 16, 17+18: Bernard Faucon, Japaner, Fasziniert lauten ihre Überschriften. Betrachtungen über die Fotografien von Faucon (*1950), das Fotografieverhalten japanischer Touristen und die Wirkung eines Werbeplakats in der Metro (es zeigt ein historisches Foto einer chinesischen Familie).
Kapitel 19+20: Wilhelm von Gloeden (1979), Bemerkung über einen Band mit Photographien von Lucien Clergue (1980) und Über die Photographie (1980). Barthes faszinieren die homoerotischen Fotos von Gloedens (1856-1931), es berühren ihn die Sandfotos von Clergue. Clergue (1934-2014) hat darüber hinaus Pflanzen, Frauenakte, aber auch Picasso portraitiert. Er wollte die Seele des großen Spaniers aufs Negativ bannen. Picasso war von der künstlerischen Begabung Clergues überzeugt. Er verglich die Bildkomposition und Herangehensweise mit jener der Maler Manet oder Renoir.

Kapitel 21: Guy Mandery und Angelo Schwarz interviewen RB „Über die Photographie“. Darin bedauert Barthes, dass es wenige intellektuelle Texte zur Photographie gibt. Er lobt in diesem Zusammenhang jedoch Schriften von Susan Sontag, Walter Benjamin und Michel Tournier. Heftig seine Behauptung, dass die Photographie keine Kunst wie die Malerei sein kann. Die Begründung dazu wird nicht verraten. Tipp: „Auge in Auge“ kaufen und lesen. Dies gilt explizit auch für die drei letzten Kapitel Vom Geschmack zur Ekstase, Vorbereitung des Romans und Proust und die Photographie (alle 1980), auf die einzugehen ich aufgrund ihrer Komplexität verzichte. Zum Kapitel Proust und die Photographie gibt es zahlreiche Fotos von Paul Nadar, dem Sohn Nadars (1820-1910).

Unbedingt lesenswert ist das Nachwort der Herausgeber Peter Geimer und Bernd Stiegler.

Mein Beitrag (März 2017) verzichtet auf Abbildungen und Zitate aus dem besprochenen Buch, da „kein Teil des Werkes in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages … verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden darf“. Suhrkamp unterstellt Zitate etc. der Honorarpflicht.

Picassos Augen am Picasso-Museum La Guerre et La Paix in Vallauris/F (Foto Hartmut Bühler)