HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

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Walker Evans im Josef Albers Museum

Walker Evans im Josef Albers Museum

Tiefenschärfe – die erste Retrospektive in Europa über Walker Evans im Josef Albers Museum Quadrat Bottrop
Über Walker Evans Einfluss zur Entwicklung der Fotografie als Kunst zu schreiben ist eine Herausforderung. Zumal er als „graue Eminenz“ unter den wichtigsten Lichtbildnern der Fotografiehistorie ganz weit oben rangiert. Auch Diane Arbus, Robert Adams, William Eggleston, Robert Frank und Stephen Shore berufen sich auf ihn.

Evans selbst schalt beispielsweise den malerischen Stil von Edward Steichen und Alfred Stieglitz als „Artiness“, lehnte die inszenierte Fotografie im Atelier ab, fotografierte heimlich in der U-Bahn „Gesichter in nackter Ruhe“ mit der Kamera unterm Mantel und per Drahtauslöser. In seiner frühesten Bildsprache stützt er sich auf László Moholy-Nagy, Alexander Rodtschenko und El Lissitzky. Wegweisend waren ihm Eugène Atget, August Sander und Paul Strand.

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Walker Evans, Roadside Stand near Birmingham, Alabama 1936

In puncto Rezension „Tiefenschärfe. Die Retrospektive“ mache ich es mir mit dem am 03. November 1903 in St. Louis/Missouri geborenen ehemaligen Literaturstudenten einfach. Baudelaire, Flaubert, Proust und T. S. Eliot zählten zu seinen Favoriten; Evans wollte ursprünglich Schriftsteller werden. Ich nutze hier drei seiner zahlreichen Zitate über und zur Fotografie und erspare mir somit eine weitere Evans-Eloge.

„Zum tausendsten Mal muss es gesagt werden, dass Bilder für sich selbst sprechen, ohne Worte, visuell – oder sie scheitern.“ 1958

„Schau genau hin, unverwandt, nur so bildest du dein Auge, und auch noch Anderes. Starre, sei neugierig, höre zu und lausche. Du willst es unbedingt verstehen, jetzt. Uns bleibt nicht viel Zeit.“ 1938

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Schaukasten mit Ausstellungsplakat vor dem Museum Quadrat in Bottrop

„Dann wird die Straße dein Museum; das Museum selbst ist schlecht für dich. Man möchte nicht, dass das eigene Werk der Kunst entspringt, man möchte, dass es im Leben beginnt, und das ist jetzt auf der Strasse. Im Museum fühle ich mich nicht wohl. Ich möchte da nicht mehr hingehen, möchte nichts mehr ´beigebracht´ bekommen, möchte keine ‚vollkommene‘ Kunst sehen“. 1971

Portraits, Reklameschilder und Typografie
Stop, verehrter Leser, bitte beherzigen Sie bloß nicht Evans Meinung „das Museum selbst ist schlecht für dich…“. Im Gegenteil, fahren Sie nach Bottrop und lassen Sie sich inspirieren von der Tiefenschärfe des Evans’schen Schaffens. Alle wichtigen Werkgruppen sind komplett vertreten, darunter die frühe Straßenfotografie um 1930, die ikonischen Arbeiten für die Farm Security Administration (1935-36), Cuba (1933), Many are Called (1938-41), die Zeit beim Magazin Fortune wie auch die Porträts mit der Polaroid SX 70-Kamera. Evans Interesse neben dem Portrait galt darüber hinaus Reklameschildern, der Typografie und Werbegrafik. Seine Motive dieser Wahrzeichen der Moderne haben offensichtlich die spätere Pop Art beeinflusst. Vielleicht ist sein bekanntestes Buch „American Photographs“ von 1938 ein Beleg dafür, dass Fotografie nach Evans Worten „die literarischste aller grafischen Künste“ darstellt.

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Walker Evans, Alabama Cotton Tenant Farmer Wife, 1936 – Detail

Ein seherisches Erlebnis ist es, das Portrait der „Alabama Cotton Tenant Farmer Wife“ von 1936 aus nächster Nähe zu betrachten. Man mag sich ins Antlitz dieser „Appalachen-Madonna“ versenken, begeistert sich ob „der trügerischen Einfachheit dieses Portraits“, das durch die Kunst der Reduktion zu seiner zeitlos durchdringenden Kraft und Wirkung findet. Evans machte vier Aufnahmen im Bestreben, die dem Gesicht eingeschriebene Komplexität zu erfassen (Silbergelatineabzug 20,3 x 25,4 cm Privatsammlung).

Umfassenste Rückschau nach der MoMa-Ausstellung 1971
Bemerkenswert, warum es so lange dauern musste, bis dass ausgerechnet das „kleine“ Josef Albers Museum Quadrat Bottrop in der „Provinz“ des Ruhrgebiets die erste Retrospektive auf dem europäischen Kontinent des wohl einflussreichsten Dokumentarfotografen im 20. Jahrhunderts ausrichtet. Diese Tatsache löst Verwunderung aus.

„Tiefenschärfe. Die Retrospektive“ ist nach der MoMa-Ausstellung 1971 und der Ausstellung im Metropolitan Museum im Jahr 2000 die umfassendste Rückschau des Werks von Evans (gestorben 1975 in New Haven) in Europa. Unter Vermittlung des Albers Museums unter Direktor und Kurator Heinz Liesbrock wandert die Werkschau in 2016 von Bottrop nach Atlanta und Vancouver. Übrigens: Liesbrock war 1978 Assistent des Fotografie-Professors Heinrich Riebesehl.

Betrüblich für Evans-gelisten, die nach Bottrop pilgern: die kleinen bis winzigen Bildlegenden zu den mehr als 200 Fotografien in „Vintage und lifetime-Qualität“. Warum diese Zumutung, ließ sich keine lesefreundlichere Bildlegende finden?

Prächtig: die Monografie zum Werk von Evans, herausgegeben von John T. Hill und Heinz Liesbrock. 260 Abbildungen, 408 Seiten, Preis im Museum € 58,00; Prestel-Verlag. Die Retrospektive wird gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, die Terra Foundation for American Art und The Josef and Anni Albers Foundation.

32 Zitate von Walker Evans: johnpaulcaponigro.com/blog

Museum Quadrat / Im Stadtgarten 20 / 46236 Bottrop / bottrop.de/mq