Charles Baudelaire: „Die beeindruckendste Verkörperung von Vitalität“
Der einzige, der wahre Nadar
Am 6. April 1820 wird in Paris Gaspard-Félix Tournachon geboren, bekannt und berühmt unter seinem Spitznamen Nadar. Als Kunstfreund bekenne ich, dass ich eifersüchtig bin auf Nadar. Auf sein aufregendes Leben. Er portraitierte Charles Baudelaire, Alexandre Dumas, die Brüder de Goncourt, Théophile Gautier, Victor Hugo, George Sand, Jules Verne (Nadar wurde Vorbild zu Vernes Romanfigur Michel Ardan (!) in dessen Büchern De la terre à la lune und Autour de la lune), Émile Zola. Darüber hinaus Hector Berlioz, Claude Debussy, Franz Liszt, Giacomo Meyerbeer, Jacques Offenbach, Gioachino Rossini, Giuseppe Verdi sowie Schauspielerin Sarah Bernhardt. Weiter Camille Corot, Gustave Courbet, Eugène Delacroix, Édouard Manet, Auguste Rodin um nur die bekanntesten zu nennen. Nadar war auch Karikaturist, Journalist und Schriftsteller, und hatte ein Faible für Linke und Anarchisten: Mikhail Bakunin saß ihm Portrait.
Nadar (1820-1910) war die Fotografen-Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Während seine Mitbewerber für ihre Portraits gemalte Hintergründe, Balustraden und dergleichen verwendeten, verzichtete Nadar darauf. Er portraitierte ohne Beiwerk mit der Konzentration aufs Wesentliche und wollte, dass seine Modelle schwarze Kleidung tragen.
Mit zwei völlig neuen Techniken beschäftigte sich Nadar intensiv, um ihre Tauglichkeit für die Fotografie zu erkunden: Die Elektrizität zur Herstellung von Aufnahmen bei künstlichem Licht (er fotografierte als Erster in den legendären Pariser Katakomben und den Abwasserkanälen) und die Ballonfahrt für Luftbilder. Sein Ballon hatte im Korb ein eigenes Labor zur Entwicklung des Kollodium-Nassplatten-Verfahrens. N. gilt als Erfinder des Fotojournalismus und Begründer der mit Kunstlicht gemachten Atelieraufnahme. Mit seiner – an Rembrandt erinnernden – auf Einfachheit und Realismus bedachten Lichtführung ist er bis heute Vorbild.
N. war einer der ersten, die die Fotografie in großem Umfang kommerzialisierten; mit Kopien seiner Prominenten-Portraits trieb N. einen schwunghaften Handel und finanzierte damit sein mondänes Studio. Gegen seinen Fotografen-Bruder Adrien, der sich Nadar der Jüngere nannte, führte er einen Rechtsstreit um den Künstlernamen Nadar, welchen er gewann. Das Gericht entschied, nur er und kein anderer sei „der einzige, der wahre Nadar“. In den 1860er Jahren wurde er selbst Opfer des immer stärker werdenden Konkurrenzdrucks und verlor das Interesse an der Fotografie. In seinen Memoiren erinnert er sich zu Recht und durchaus auch eitel, dass er entscheidenden Anteil daran hatte, die Fotografie zur Kunst zu erheben. Apropos Kunst: 1862 karikiert Honore Daumier den Freund im Ballon nebst Kamera über Paris und schreibt dazu „Nadar erhebt die Fotografie zur Höhe der Kunst“.
Zum Kürzel Nadar. In seiner Jugendzeit erhielten Freunde liebevolle Spitznamen, indem die Silbe -dar in den Namen integriert oder angehängt wurde. So wurde er zuerst Tournadar, dann nur noch Nadar gerufen. Eine andere Deutung: „Nadar“ ist die Abkürzung von „Tourn á Dard“ (bitterer Stachel), dem Spitznamen, der ihm wegen seiner Karikaturen verliehen worden war.
Diese Zeilen entstanden „mit freundlicher Unterstützung“ des englischen Autors Julian Barnes. Sein Buch LEBENSSTUFEN und die darin enthaltene Geschichte „Die Sünde der Höhe“ über Felix Tournachon inspirierten mich zu diesem Beitrag. Bevor ich weitere Details über Nadar verrate – kaufen Sie das Barnes-Büchlein. Es lässt seine Leser für drei Stunden dem Alltag entschweben.
Gaspard-Félix Tournachon war Abenteurer, Aeronaut, Bohemian, Erfinder, Fotograf, Familienvater, Journalist, Karikaturist, Medizinstudent, Schriftsteller, Spion, Tierschützer und Unternehmer. Zum Buchtitel Nadar55: Phaidon Verlag, Deutsche Erstausgabe 2001. (Text und Abb. – Hartmut Bühler)