HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

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Mahner gegen das Vergessen

Mahner gegen das Vergessen

Jüdische Portraits von Herlinde Koelbl im Jüdischen Museum Westfalen, Dorsten

Der Tod von Max Mannheimer (96) im September d. J. beweist, wie aktuell die Ausstellung „Jüdische Portraits“ in Dorsten ist. Mannheimer, ein Überlebender des Holocaust, war Ehrenbürger von Dachau und maßgeblich am Bau des NS-Dokumentationszentrums München beteiligt. Obwohl er in mehreren Konzentrationslager inhaftiert war und fast seine gesamte Familie verlor, hat er stets die Hand zur Versöhnung gereicht und sich gegen Rassismus und für eine menschenwürdige Zukunft eingesetzt. Bundeskanzlerin Merkel würdigte den Verstorbenen als „Mahner gegen das Vergessen“. Bundespräsident Gauck erinnerte daran, dass Mannheimer „durch die Hölle … ging und unermüdlich für Rechtsstaat und Demokratie eintrat. Niemals hat er Rache oder Vergeltung das Wort geredet…“.

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Koelbl hat Mannheimer nicht fotografiert. Jedoch ist ihr 1989 erschienenes Buch „Jüdische Portraits“ mit 80 Persönlichkeiten „einer Generation, die als letzte in das intellektuelle und geistige Klima der deutsch-jüdischen Symbiose hineingeboren wurde, die die Zerschlagung dieser Kultur miterleben musste – und die sie überlebte“, längst ein Klassiker der „Portraitphotographie“. Darüber hinaus sind die von der Fotografin geführten Gespräche ergreifende wie erschütternde Zeitzeugnisse.

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Koelbl hat für Jüdische Portraits auch zwei weltberühmte Kamerakollegen fotografiert und interviewt: Ilse Bing und Alfred Eisenstaedt. 1935 musste Eisenstaedt (*1898 Dirschau, Westpreußen † 1995 Oaks Bluffs, Massachusetts) in die USA emigrieren. Bald wurde er der Starreporter von Associated Press. Eine der beeindruckendsten wie beklemmendsten Fotosequenzen Eisenstaedts stellen Aufnahmen von Joseph Goebbels dar, die er 1933 bei einer Tagung des Völkerbundes in Genf aufgenommen hatte. Goebbels zeigte sich zunächst freundlich, verzog sein Gesicht allerdings zu einer hasserfüllten Miene, als er erfuhr, dass ausgerechnet der Fotograf, der ihn gerade ablichtete, jüdischer Abstammung sei. Letzteres Foto ging durch die Weltpresse. Eisenstaedt selbst ist sich erst viel später in seiner Autobiographie „Eisenstaedt über Eisenstaedt“ der Aussagekraft des Fotos bewusst geworden. Eisenstaedt hatte auch Hitler und Mussolini fotografiert (Quelle: Wikipedia).

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Ilse Bing (*1899 Frankfurt am Main † 1998 New York) – die hervorragende Qualität ihrer Abzüge ließ den Fotografen und Kritiker Emmanuel Sougez sie als „Königin der Leica“ beschreiben. Neben ihrer Arbeit an Fotoreportagen experimentierte Ilse Bing während des Jahres 1934 im Fotolabor mit der Technik der Solarisation, unabhängig von den parallel entstehenden Werken Man Rays. Nach dem Einfall deutscher Truppen in Frankreich wurde Bing 1940 gemeinsam mit ihrem Mann, dem deutschen Pianisten und Musikwissenschaftler Konrad Wolff ins Internierungslager Camp de Gurs gebracht. Über Marseille gelang beiden die Flucht und Emigration in die USA. Sie ließen sich in New York nieder. In Paris hatte Bing ihre kreativste Schaffensphase, hier fühlte sie sich verwurzelt. 1947 unternahm sie eine Reise nach Deutschland und Frankreich. Sie fotografierte zu dieser Zeit mit einer Rolleiflex-Mittelformatkamera. 1957 wandte sie sich von der Schwarzweiß-Fotografie ab und konzentrierte sich auf die Arbeit mit Farbnegativen. 1959 gab sie die Fotografie auf (Quelle: Wikipedia).

Koelbl bezeichnet dieses Projekt als das, was sie in ihrer Laufbahn „am meisten berührte“. Tatsächlich ist es ihr gelungen, hinter die Fassade ihrer Portraitierten zu blicken. „Jüdische Portraits“ erschien im S. Fischer Verlag.

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Historie zur Jüdischen Gemeinde in Dorsten:
1599 Der Kölner Erzbischof Ernst von Bayern erlässt für das Vest Recklinghausen die erste „Judenordnung“. In den nächsten 200 Jahren halten sich in Dorsten und der Herrlichkeit Lembeck zeitweise einzelne Juden auf.

1808 Die ersten Juden lassen sich dauerhaft in Dorsten nieder und richten wenig später einen Betraum ein. Im Laufe der Zeit bildet sich in der Wiesenstraße das jüdische Zentrum der Stadt heraus.

1914 Acht jüdische Männer aus Dorsten nehmen am Ersten Weltkrieg teil; drei von ihnen fallen.

1933 In Dorsten, Lembeck und Wulfen leben etwas 90 Juden. Aus Angst verlassen einige Familien in den nächsten Jahren ihre Heimat und wandern aus.

1938 SA- und SS-Angehörige sowie Mitglieder von NS-Jugendorganisationen schänden den Friedhof im Judenbusch, verwüsten die Synagoge und verbrennen Einrichtungsgegenstände auf dem Marktplatz.

1942 Die letzten noch in Dorsten und Lembeck lebenden Juden werden in das KZ Riga deportiert. Dort verliert sich die Spur vieler für immer. Den Holocaust überleben von den Dorstener Juden nur Max und Ernst Metzger, die nach Amerika auswandern.

Ab 1982 Die Forschungsgruppe „Dorsten unterm Hakenkreuz“ arbeitet die Geschichte der jüdischen Gemeinde auf.

Ab 1990 Einzelne jüdische Familien aus der ehemaligen Sowjetunion finden in Dorsten eine neue Heimat.

1992 Das „Jüdische Museum Westfalen“ wird als Lehrhaus für Geschichte und Gegenwart des Judentums in der Region eröffnet.

Bis 18. Dezember d. J.: 26 Jüdische Schwarzweiß-Portraits mit Interviewtafeln. Eine Wanderausstellung der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; unterstützt von der Volksbank Dorsten. Geöffnet: Di-Fr 10.00-12.30 h und 14-17 h, Sa, So, Feiertage 14-17 h, Mo geschlossen → jmd-dorsten.de

Eine weitere bemerkenswerte Foto-Initiative ist das Projekt „Gegen das Vergessen“. Ein Team um Fotograf und Filmemacher Luigi Toscano begann mit der Umsetzung einer Foto-Installation im öffentlichen Raum Mannheims. Es setzte sich zum Ziel, im Nationalsozialismus Verfolgte und Inhaftierte jeglicher Herkunft und Nationalität aufzusuchen und fotografisch sowie filmisch zu porträtieren. Anlass ist die Befreiung der Konzentrationslager, die sich 2015 zum siebzigsten Mal jährte. Siehe → gegen-das-vergessen.gdv-2015.de/de/projekt

Für die Ausstellungsfotos wurde Record-Rapid Papier von AGFA verwendet. Copyright: Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn. Originale: Copyright Herlinde Koelbl. Text & Ausstellungsfotos: Hartmut Bühler, Fotograf (DGPh), Düsseldorf