HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

HARTMUT BÜHLER FOTOGRAFIE

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Taryn Simon im Museum Folkwang

Taryn Simon im Museum Folkwang

Dunkelkammer des Abgründigen – Taryn Simon im Museum Folkwang in Essen
Erstmalig gemeinsam präsentiert die amerikanische Künstlerin Taryn Simon Arbeiten aus ihren drei sehr umfangreichen Werkreihen „The Innocents“ (2002), „An American Index of the Hidden and Unfamiliar“ (2006-07) und „A Living Man Declared Dead and Other Chapters I – XVIII“ (2011) der Öffentlichkeit. Die Künstlerin selbst hat die Werkschau mit dem Titel „There Are Some Who Are in Darkness“ aus den Beständen des Sammlers Thomas Olbricht zusammengestellt.

Bei den Werkkomplexen geht es um unschuldig zum Tode verurteilte US-Bürger. Des weiteren um unbekannte und verdrängte Sachverhalte, Tabus, Orte und Institutionen des gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Lebens der USA.

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Taryn Simon: THE INNOCENTS: Charles Irvin Fain – Tatort, Snake River, Melba, Idaho. Er verbüßte 18 Jahre einer Todesstrafe wegen Mord, Vergewaltigung und Entführung. (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. Bühler)

Darüber hinaus beim Zyklus „A Living Man Declared Dead and Other Chapters I – XVIII“ um „die individuelle Dimension menschlicher Schicksale, psychologische Disposition und Vererbung, mit den externen Faktoren sozialer Determinierung, wie Politik und Territorium, Abstammung und Klasse. Die große, weltweit recherchierte Saga aus achtzehn Kapiteln, von denen sechs in Essen zu sehen sein werden, berichtet auch von den historischen Verwerfungen und globalen Verflechtungen menschlicher Schicksale, die das 20. Jahrhundert hinterlassen hat“.

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Serie THE INNOCENTS: Larry Mayes – Ort der Festnahme, Royal Inn, Gary, Indiana. Die Polizei fand Mayes in diesem Raum zwischen Matratzen versteckt. Er verbüßte 18,5 Jahre einer 80jährigen Haftstrafe wegen Vergewaltigung, Raub und unrechtmäßigem Verhalten. (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. Bühler)

„Was Taryn Simons verschiedene Arbeiten gemeinsam haben, ist die Frage, wie die Fotografin die ,Dark Side of Life‘ beleuchtet, bisher Ungesehenes sichtbar macht und Unbesprochenes in den sozialen Diskurs einschleust. Das methodisch Spannende und Innovative all ihrer Werke liegt aber auch in der Art und Weise, wie die textliche Erzählung das Bild erweitert, wie Fotografie und Text zu einer untrennbaren Einheit werden. Damit gehört sie zu den wichtigsten Positionen eines erweiterten fotografischen Dokumentarbegriffs und findet eine Antwort auf den bekannten Vorwurf Bertolt Brechts an die Fotografie *, das Medium verstünde nichts von den sozialen Zusammenhängen hinter dem Sichtbarem.“ (Zitat Pressetext Museum Folkwang)

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Serie THE INNOCENTS: Larry Youngblood – Ort des Alibis, Tucson, Arizona. Mit Alice Laitner, seiner Freundin und Zeugin vor Gericht. Er verbüßte acht Jahre einer 10,5jährigen Haftstrafe wegen sexueller Nötigung, Entführung und Kindesmissbrauchs (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. Bühler)

„There Are Some Who Are in Darkness“
Die Headline der Ausstellung „There Are Some Who Are in Darkness“ nach einer Textzeile aus Bertolt Brechts Moritat „Mackie Messer“ birgt einen Doppelsinn. Das zentrale Motiv der Arbeit Simons ist „die Sichtbarmachung von bisher Verborgenem“. So lautet denn der Vierzeiler Brechts „Denn die einen sind im Dunkeln / und die anderen sind im Licht / Und man siehet die im Lichte / Die im Dunkeln sieht man nicht.“

Mit intensivster Neugierde und monate- bis jahrelanger Ausdauer verfolgt die Aufklärerin mit der (Großformat-)Kamera ihre selbst gestellten Themen. Tatsächlich erinnert ihre Ausdauer an Sisyphus, fast felsgroß ist ihr 864 Seiten starker Katalog zum Werkzyklus A Living Man Declared Dead and Other Chapters.

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Sexual Assault Kitts, Lagerraum des Materials für DNA-Analyse; Bode Technology Group, Inc., Springfield, Virginia (fotografiert in der Ausstellung von Hartmut S. Bühler)

Nicht nur an die Präsentation und exzellente Optik stellt die US-Amerikanerin höchste Ansprüche. Gleichwertig sind die Texte, ohne die die Bilder nicht zu verstehen sind. Ihre präzise Sprache, die sich Wertungen des Gezeigten enthalten, steigert den leisen Horror der Leser-Betrachter.

Schaukästen à la Naturkundemuseum
Doch die gewählte Form der Präsentation – Schaukästen à la Naturkundemuseum – stellt denn auch die Schwachstelle der Ausstellung für Besucher dar. Wollen schon mehr als zwei Personen die kleinformatigen Fotos, Erklärungen und kleingedruckten Texte sehen und lesen, fühlt man sich gedrängt, gestört und geht dann weiter zum nächsten Tableau. Hier wieder das gleiche Moment: Es frustet, weil sich die Tragweite des Gesehenen ohne die Texte tatsächlich nicht erschließt – ein Gefühl der Resignation stellt sich ein.

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Foto: Hartmut S. Bühler

Künstlerische Fotografie gegen Reportage-Fotografie
Am 11. November publizierte Prof. Klaus Honnef, Kunsthistoriker, Theoretiker für künstlerische Fotografie, auf Facebook: „Während sich für die Kunstfotografie das Tor zur Langweile immer weiter öffnet, pendelnd zwischen Wandaktie und Wandschmuck, gewinnt eine häufig totgesagte Gattung wie die Reportage-Fotografie wenigstens in ästhetischer Hinsicht immer stärkeren Auftrieb. Schon lange begnügen sich die besten journalistischen Fotografen nicht mehr mit der puren Schilderung dessen, was vermeintlich ist – ihnen gelingt nicht selten sogar der Schritt zur Verdichtung und zu Analyse der Verhältnisse.

Die Reportage wandelt sich zum Bildessay. Selten sah ich so viele bezwingende Bildfolgen wie jüngst bei der Jurysitzung zum UNICEF-Foto des Jahres 2013. Ein Dutzend wäre preiswürdig gewesen, und allemal anspruchsvoller, visuell origineller, thematisch erhellender und obendrein bewegender und zugleich reflektierter als das Meiste, was gegenwärtig in den Galerien und Museen als Kunstfotografie zu sehen ist.“

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Foto: Hartmut S. Bühler

Lieber Klaus Honnef, besuchen Sie das Folkwang-Museum in Essen und überzeugen Sie sich: nur wenige beherrschen die Reportage-Fotografie so kunstvoll wie die 1975 in New York geborene Taryn Simon. Ihr gewaltiges Arbeitspensum bewältigt die Tochter eines ehemaligen Angestellten im Außenministerium und leidenschaftlichen Hobbyfotografen und mit einem kleinen Team: ihrer Schwester und einem Assistenten. International bekannt wurde die Guggenheim-Stipendiatin 2002 mit „The Innocents“ für die New York Times. Die Kunstwelt stuft Taryn Simon mittlerweile zu den zehn bedeutendsten Fotografinnen unserer Zeit ein.

Taryn Simon über ihre Motivation: „Ich glaube, ich bin ängstlicher als die meisten Menschen. Es ist die Angst, die mich antreibt. Ich gehe dauernd an meine eigenen Grenzen, zwinge mich dazu die Dinge zu machen, obwohl ich dabei nicht glücklich bin.“ – „Ich habe eine Liste mit all den geheimen, kaum bekannten Plätzen gemacht, die ich persönlich sehen will.“ (Quelle: Wikipedia)

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Foto: Hartmut S. Bühler

There Are Some Who Are in Darkness – Works from the Olbricht Collection (Kunstmäzen, Chemiker, Arzt und ehemaliger Aufsichtsratsvorsitzender der Wella AG), selected by the Artist Taryn Simon
– bis 02. März 2014 im Museum Folkwang, Essen
Es gibt zur Ausstellung keinen Katalog.
www.museum-folkwang.de

Zitat von Bertold Brecht:
„Die Lage wird dadurch so kompliziert, dass weniger denn je eine einfache ‚Wiedergabe der Realität‘ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. Die Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, also etwa die Fabrik, gibt die letzteren nicht mehr heraus. Es ist also tatsächlich ‚etwas aufzubauen‘, etwas ‚Künstliches‘, etwas ‚Gestelltes‘.“

aus: Der Dreigroschenprozess (1931).
in: Gesammelte Werke in 20 Bänden. Frankfurt a. M. 1967, Bd. 18, S. 161

Walther Benjamin bezieht sich darauf in seiner „Kleine Geschichte der Fotografie“ (1931) in: Kemp, Wolfgang (Hg.): Theorie der Fotografie II, 1912-1945, München 1979, Band 2, S. 211

Links über und zur Künstlerin:
www.art-magazin.de
www.ted.com
www.spiegel.de (Ausstellungsbesprechung von Georg Dietz)
www.spiegel.de (Georg Dietz über Taryn Simon als Schlüsselperson 2011)
sz-magazin.sueddeutsche.de (Interview mit Taryn Simon von Jan Heidtmann) sz-magazin.sueddeutsche.de  (Taryn Simon über ihr Projekt „Birds of the West Indies“
tarynsimon.com/works

Text und Ausstellungsfotos: Hartmut S. Bühler